Interview

Stefan Vilsmeier, CEO, Brainlab

Brainlab hat es sich vor über 25 Jahren zur Aufgabe gemacht, die Medizin mit digitaler Technologie zu transformieren. Wie haben sich die Rahmenbedingungen für Ihre Arbeit seitdem geändert?

Der Gesundheitssektor ist – zu Recht – schon immer einer der am stärksten regulierten Politikbereiche. Die meisten Regelungen sind sinnvoll und wichtig, etwa die klinischen Nutzenbewertung vor der Einführung neuer Technologien. Heute besteht allerdings die Gefahr, dass die Komplexität der Regelwerke die Innovationskraft und Zukunftsperspektive vieler Unternehmen in Deutschland und Europa hemmen. Bei grenzüberschreitenden Geschäftsmodellen multipliziert sich die Komplexität in Europa sogar. Denken Sie nur an die unterschiedliche Auslegung der DSGVO in verschiedenen europäischen Staaten, ja sogar in manchen deutschen Bundesländern. Gerade die datengetriebenen Gesundheitsanwendungen der Zukunft werden hier massiv behindert. Zu Lasten des medizinischen Fortschritts. Sicherheit von Patienten ist bei Medizinprodukten höchstes Gebot. Aber Reduzierung von regulatorischer Bürokratie durch Harmonisierung von Regelungen stärken Innovationskraft und nützt den Patienten.

In welchen Bereichen rechnen Sie mit den größten technologischen Sprüngen in den kommenden Jahren? Wie stellt sich Ihr Unternehmen darauf ein?

Unser Anspruch ist es seit knapp 30 Jahren, mit neuen Technologien die Behandlung von Patienten zu verbessern. Viele Technologien mit großem Potential für die Medizin haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt: Cloud-Computing, Künstliche Intelligenz, Robotic, Augmented Reaility und 5G. Nun gilt es, diese Technologien verantwortungsvoll zu nutzen und mit Daten als integrierendes Element zusammenzufügen. Die granulare und strukturierte Erfassung, Speicherung und Nutzung von Daten ermöglichen es, Behandlungen auf den individuellen Patienten zu personalisieren und so zu optimieren. Parkinson-Patienten können gezielter durch einfachere Eingriffe behandelt werden, Krebspatienten mit einer auf dutzenden Parametern basierenden Dosis gezielter bestrahlt, und degenerative Wirbelsäulenprobleme genauer analysiert werden, um vorherzusagen, ob der Patient von einem Eingriff profitieren wird. Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ mag für viele Patienten etwas Bedrohliches beinhalten, allerdings stecken dahinter meistens einfach nur besonders effiziente Algorithmen, ohne die das Potential neuer Behandlungsmethoden nicht ausgeschöpft werden kann. Wichtig sind Transparenz bei der Entwicklung, Validierung, und dem Einsatz dieser Technologie.

Um eine breite Partizipation auch vieler kleiner innovativer Unternehmen an dieser Technologie zu ermöglichen, haben wir im Sommer dieses Jahres unser in 30 Jahren gewachsenes Software-Know-How in unserer neuen Tochtergesellschaft „Snke OS“ mit Sitz in München gebündelt. Dort arbeiten 100 Entwickler an einer Art ‚Betriebssystem der Chirurgie‘. Das Team soll sich in weniger als einem Jahr verdoppeln und so Deutschland als Standort für die digitale Medizin der Zukunft stärken.

Inwiefern spielen branchenübergreifende Ansätze hierbei eine Rolle?

Branchenübergreifende Ansätze spielen eine wichtige Rolle, denn sie erlauben es uns, unsere Lösungen so integrativ und technikübergreifend wie möglich zu gestalten. Wir beobachten mit Sorge, dass insbesondere große Hersteller versuchen, durch in sich abgeschlossene Technologien den Einsatz der eigenen Produkte jeweils für den gesamten Behandlungsprozess zu erzwingen, vom Roboter bis hin zu den Implantaten. Diese Ansätze sind wettbewerbsschädlich, ermöglichen keinen flexiblen Einsatz von Ressourcen, und sind damit auch nicht nachhaltig. Ich trete für offene Schnittstellen und breite Partizipation vieler Akteure am Gesundheitsmarkt ein. Im digitalen Bereich heißt das: Offene Schnittstellen, standardisierte Formate, teilweise Open Source, und eine Vernetzung insbesondere von kleineren innovativen Unternehmen.

Denn entscheidend für eine erfolgreiche Digitalisierung des Gesundheitsbereichs ist heute vor allem das Zusammenspiel zwischen Daten, Technologie und Mensch. So hat die Brainlab AG vor kurzem mit der Firma „Level Ex“ einen führenden Anbieter von professionellen Computerspielen für Ärzte aus den USA übernommen. Dieses Unternehmen vermittelt mit spielerischen Ansätzen Wissen und Know-How für Ärzte und Chirurgen und hilft bei der Aus- und Weiterbildung von Medizinern durch „Augmented Reality“. 

Übrigens: Die Astronauten der NASA trainieren auch mit unserer Technologie. Das ist doch wirklich branchenübergreifend, oder?

Wo sehen Sie die größten Hürden für die weitere Transformation der Gesundheitsbranche? Wo besteht aus Ihrer Sicht politischer Handlungsbedarf?

Es ist mir durchaus verständlich, dass viele Menschen eine mögliche Sekundärnutzung ihrer Gesundheitsdaten mit Skepsis betrachten, aber gleichzeitig auch die bestmögliche Gesundheitsversorgung erwarten. Dieser Zwiespalt erfordert eine umfassende gesellschaftliche Diskussion und Aufklärung über Chancen und Risiken. Wir müssen Chancen aufzeigen, nicht Risiken kultivieren. Ich denke, hier können und müssen Politiker einen Beitrag leisten.

Es muss auch darüber gesprochen werden, wie mit Daten Geld verdient werden darf. Ich meine, nicht durch den reinen Handel mit Daten, und das „Besetzen des Zollhäuschens“, sondern mit aus Daten generierten Mehrwehrt für den Patienten. Es sollte auch eine grundsätzliche Verpflichtung bestehen, Daten innerhalb einer autorisierten Benutzergruppe zu fairen Konditionen zu teilen. Es versteht sich von selbst, dass dabei hohe Datenschutzstandards einzuhalten sind. Wenn man sich als Unternehmen den besonders strengen Anforderungen in Deutschland stellt, ermöglicht das eine globale Vorbildrolle. Brainlab möchte globaler Technologieführer auch bei Datenschutz und Privatsphäre der Patienten sein.

Zugleich ist die verstärkte Nutzung von Daten für Deutschland und Europa eine Chance: Wir können in einem gemeinsamen europäischen Datenraum für Gesundheitsdaten unsere europäischen Grundwerte verankern. Denn es darf keinen Datenkapitalismus wie in den USA oder einen Datensozialismus wie in China geben, sondern eine selbstbestimmte und soziale Datenmarktwirtschaft in der das Recht auf Privatheit und Sicherheit auf der einen und Innovation sowie wirtschaftliche Prosperität auf der anderen Seite ausbalanciert werden. Es wäre bedauerlich, wenn die zukünftigen datengetriebenen Technologien – die auch in Europa zum Einsatz kommen werden – nur noch in den USA oder China entwickelt werden und Europa zum reinen Absatzmarkt wird. Tesla und Amazon sind hier mahnende Beispiele aus anderen Sektoren.

Stichwort Corona-Krise: In vielen Bereichen hat die Corona-Krise die Digitalisierung beschleunigt. Wie schätzen Sie die mittel- bis langfristigen Folgen für die Gesundheitsbranche ein?

Die Corona-Krise hat gezeigt: Deutschland hat die beste Gesundheitsversorgung insbesondere im stationären Bereich. Wenn es uns gelingt, diese zu digitalisieren, kann davon die ganze Welt profitieren. Da unsere Produkte in mehr als über 100 Ländern in Einsatz sind, wissen wir, dass nahezu alle Regierungen verstärkt die Notwendigkeit einer tieferen Digitalisierung im Gesundheitsbereich erkannt haben und entsprechend investieren wollen.

Spannend wird nun sein, ob diesen praktischen Erkenntnissen auch ein Mentalitätswandel folgt. Ich habe das vorhin schon gesagt: Wir müssen gemeinsam die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Digitalisierung in der Medizin steigern. Insbesondere die Themen Datenschutz und Digitalisierung sollten nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. Wenn wir darauf eine gemeinsam europäische Antwort finden, wird die COVID-19-Pandemie im Rückblick ein Akzelerator des medizinischen Fortschritts gewesen sein.